Widersprechen sich die Evangelien?

Dem aufmerksamen Leser fällt beim Vergleich der Berichte in den Evangelien auf, dass es offensichtliche Differenzen gibt. Aber handelt es sich bei diesen auch um Widersprüche? Anhand eines Beispiels wird im Folgenden untersucht, ob und wie gezeigt werden könnte, dass solche Unterschiede harmonisiert werden können.

Ein häufiger Einwand gegen die Verlässlichkeit der Berichte in der Bibel betrifft die Differenzen in den vier Evangelien. Wenn man diese nebeneinander liest, wird schnell klar, dass sie Unterschiede aufweisen. Ehrman nennt hierzu mehrere Beispiele.[1] Im Johannes-Evangelium wird die Reinigung des Tempels am Anfang des Dienstes von Jesus platziert (Johannes 2). Gemäss Markus scheint sich dieses Ereignis in der letzten Woche seines Lebens zugetragen zu haben (Markus 11).
Ähnliches kann beispielsweise auch bei den Auferstehungsberichten beobachtet werden. Die Evangelien berichten davon, dass Frauen zum Grab Jesu kommen.[2] Sie unterscheiden sich jedoch darin, was die Frauen dort sahen. Markus berichtet davon, dass sie einen Mann sahen (Mk 16:5). Lukas erwähnt die Präsenz von zwei Männern (Lk 24:4). Bei Matthäus hingegen ist es ein einzelner Engel (Mt 28:2-5). Für Ehrman und andere liberale Gelehrte sind derartige Differenzen ausreichend, um den Schluss zu ziehen, dass diese Berichte historisch nicht miteinander harmonisiert werden können.[3]

Abb. 1 - Beispiel von Differenzen in den Auferstehungsberichten

Die zentrale Frage ist in diesem Zusammenhang, ob solche Differenzen miteinander in Einklang gebracht werden können oder ob sie zwingend Widersprüche darstellen. Um zu demonstrieren, dass sich zwei Textabschnitte widersprechen, muss gezeigt werden, dass es keine auch nur annähernd plausible Möglichkeit für die Harmonisierung der beiden Abschnitte gibt. Es ist nicht bekannt, dass Ehrman oder sonst jemand dies bisher zeigen konnte.

Betrachten wir hierzu das erste Beispiel von Ehrman: die Reinigung des Tempels. Ehrman diskutiert lediglich eine mögliche Lösung. Er erwägt den Ansatz, dass es sich um zwei separate Ereignisse im Leben Jesu handeln könnte. Diese Lösung verwirft er allerdings aus mehreren Gründen: (1) die Schreiber der Evangelien würden dann nicht die "wahre Geschichte" erzählen und (2) aus historischer Sicht sei es nicht plausibel, dass es bereits zu Beginn des irdischen Dienstes von Jesus Christus geschehen ist, weil er in diesem Fall bereits verhaftet worden wäre.[4] Dementsprechend müsste sich einer der Schreiber geirrt haben, weil er das Ereignis nicht an der richtigen chronologischen Stelle im Leben Jesu erwähnt.

Die Antwort von Ehrman kann aus mehreren Gründen kritisiert werden. Erstens ist es etwas mager, wenn man lediglich eine mögliche Lösung diskutiert, wie zwei Abschnitte in Einklang gebracht werden könnten. Dies ist v.a. dann der Fall, wenn es zusätzliche, plausible Ansätze gibt. So kann es schnell passieren, dass eine mögliche Alternative übersehen wird.

Zweitens ist es unklar, was Ehrman mit der Aussage, die Autoren der Evangelien würden nicht die "wahre Geschichte" erzählen, meint. Impliziert dies eine Erwartung, dass antike Autoren von Biographien sich an dieselben Standards moderner Biographien (z.B., dass die Ereignisse in einer strikt chronologischen Abfolge wiedergegeben werden müssen) halten sollen? Es gibt keinen legitimen Grund für diese Annahme.
Gerade in diesem Zusammenhang ist es ausserdem aufschlussreich, wenn man wichtige Charakteristika von antiken griechisch-römischen Biographien mitberücksichtigt. Eine dieser Charakteristika wird als "Dislokation" (engl. "Displacement") bezeichnet. Gemäss Licona versetzt ein Autor ein Ereignis, wenn er dieses "wissentlich aus dem ursprünglichen Kontext entwurzelt und es an einer anderen Stelle wiedereinsetzt."[5] Die Verwendung eines solchen literarischen Stilmittels ist zur damaligen Zeit legitim gewesen und wurde auch von anderen Geschichtsschreibern wie Plutarch verwendet. Falls sich Johannes dieses typischen literarischen Merkmals bediente, indem er das Ereignis zum Anfang des öffentlichen Dienstes von Jesus gestellt hat, dann erweist sich der erste Einwand von Ehrman als fehlgeleitet.

Drittens ist Ehrmans (zweites) Argument, dass es unwahrscheinlich sei, dass Jesus den Tempel zu Beginn seines Dienstes gereinigt habe, nicht überzeugend. Falls Johannes das Ereignis nicht wie oben beschrieben versetzt hat, wäre es immer noch möglich, dass Jesus den Tempel zwei Mal gereinigt hat. Nash bemerkt, dass Jesus zu Beginn seines öffentlichen Dienstes die Sympathie des Volkes hatte.[6] Es ist also durchaus denkbar, dass er entweder nicht verhaftet, oder falls doch, wieder freigelassen worden wäre. In beiden Fällen muss zumindest nicht der Schluss gezogen werden, dass Jesus verhaftet worden wäre und sein Dienst danach (mit seinem Tod) geendet hätte.

Schlussfolgerung

Die Auseinandersetzung mit Einwänden, bei denen argumentiert wird, dass die Bibel Widersprüche enthält, kann sehr arbeitsintensiv sein. Es benötigt Zeit und Hintergrundwissen, um die unterschiedlichen Möglichkeit, wie die Differenzen zwischen den Berichten harmonisiert werden können, zu untersuchen und zu vergleichen. Für das Beispiel von Ehrman über die Tempelreinigung kann zumindest nicht gefolgert werden, dass die Berichte nicht harmonisiert werden können. Es gibt sogar mehrere plausible Erklärungsansätze. Wenn dies bereits für das besprochene Beispiel gezeigt werden kann, dann darf man weiteren Vorwürfen der Widersprüchlichkeit (zum Beispiel bei Differenzen in den Auferstehungsberichten) mit einem gesunden Mass an Skepsis begegnen.